Auslegung des Wochenspruchs Judika 29. März 2020

Der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und gebe sein Leben zu einer Erlösung für viele. (Matthäus 20, 28)

Judika heißt der Sonntag, den wir am 29. März 2020 feiern. Einmal mehr feiern wir auch diesen Sonntag auf ungewöhnliche Weise, nicht mit einem Gottesdienst in der Heinersdorfer Kirche. Es ist der dritte Sonntag, an dem wir keine Gottesdienst in der Kirche feiern können. In den Gemeinden und in der Landeskirche gibt es inzwischen neue und kreative Ideen, auf andere Weise gottesdienstlich miteinander verbunden zu sein, z.B. wenn wir zur gleichen Zeit zuhause beten und singen. Das Wissen, dass andere zur selben Zeit tun, was wir tun, wird zum guten Gefühl der Verbundenheit.

Judika ist der fünfte Sonntag der Passionszeit. Im Kirchenjahr gehen wir mit großen Schritten auf Karfreitag und das Osterfest zu. Die biblischen Lesungen des Sonntags und der Wochenspruch sind sehr deutlich ausgerichtet auf Jesus Christus, auf sein Leiden und Sterben und was es für uns bedeutet, dass er sein Leben gibt „zu einer Erlösung für viele“.

Bei vielen Menschen heute, bei Kirchenfernen ebenso wie bei denen, die sich der Kirche verbunden fühlen, löst die Vorstellung des erlösenden Opfers Jesu Christi allerdings oft Befremden aus. Wieso sollte ein anderer Mensch „für mich“ leiden und sterben, so fragen sie. Niemand sollte sich für andere opfern müssen. Sind wir nicht selbst, jeder und jede für sich, gerufen, Verantwortung für unser Leben zu tragen, eine Verantwortung, die uns keiner abnehmen kann? Wir allein sind es, die Gutes oder Schlechtes tun, die sich an dem, was gelingt, erfreuen können und für die eigenen Fehler gerade stehen müssen. Warum sollte uns die individuelle Verantwortung für uns selbst abgenommen werden?

Wir möchten nicht von anderen abhängig sein; wir schätzen die eigene Freiheit sehr. Doch eine zu individualistische Sicht übersieht, dass wir nie nur auf uns selbst bezogen leben, sondern in allen Bereichen des Lebens und zu allen Zeiten mit anderen Menschen verbunden sind, in vielfacher gegenseitiger Abhängigkeit. Unser Leben ist davon durchzogen. Von Geburt und Kindheit an leben wir davon, dass andere etwas „für uns“ tun: Eltern für ihre Kinder – alle, die etwas herstellen, damit andere es benutzen können – und derzeit besonders aktuell: Ärzte und Pflegerinnen für die, die sich nicht selbst heilen und pflegen können. Auch jedes soziale Engagement beruht auf dem Gedanken, dass wir etwas „für andere“ tun können.

Menschen „dienen“ einander mit ihren Gaben und Fähigkeiten; manche bringen dabei freiwillig Opfer für andere. In der gegenwärtigen Corona-Krise können wir sehen, wieviele Menschen helfen und Gutes tun wollen: eine großes Maß an Mitgefühl und Solidarität – wie gut, dass es das gibt! Zugleich wissen wir von Menschen, die sich gern bedienen lassen und das, was andere für sie tun, als selbstverständlich ansehen. Sie haben nur den eigenen Vorteil im Blick – das gegenwärtige ‚Hamstern‘ kommt mir dabei sofort in den Sinn.

„Der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene“, sagt Jesus. Haben wir noch einen Blick dafür, dass wir das gegenseitige Dienen und Dienen-Lassen wahrnehmen? Vielleicht sind die Begriffe altmodisch geworden; dann reden wir lieber vom „Füreinander Dasein“ und von der Verantwortung, die wir für andere übernehmen, die Hilfe benötigen. Das ‚Dienen-Lassen‘ können wir übersetzen mit Egoismus, mit einer Haltung, die nur sich selbst sieht.

Im Glauben an Jesus Christus folgen wir seinem Beispiel des Dienens und sind wachsam gegenüber denen, die sich dienen lassen. Im Zusammenhang des Wochenspruches bei Matthäus geht es um eine Rangstreit-Diskussion unter den Jüngern und ganz konkret um die Frage, wer im Reich Gottes oben sitzen darf. Jesus will solches Denken unter seinen Jüngern nicht; er will sie stattdessen dahin führen, sich der falschen Strukturen des Dienens und Dienen-Lassens bewusst zu werden. Eben das ist seine Freiheit: eine andere als die, die sich von Bindungen lösen will. Es ist die Freiheit zur Bindung an die Menschen, mit denen wir leben. Und es ist die Freiheit von der Verführbarkeit, „oben“ sitzen zu wollen. In der Nachfolge Jesu, der sein Leben für andere hingibt, werden wir frei für den Geist des Füreinander- Daseins.

Pfarrerin Anne-Kathrin Finke

Dieser Beitrag wurde unter Allgemein veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.